Das Kind und der Kristall (aus: "Wenn ich doch nur wäre!")

 

Der Kleine Schatz machte eine kurze Pause, um das Gesagte wirken zu lassen. Gongina, die der Ausführung sehr aufmerksam gefolgt war, schaute mit einem verträumt fragenden Blick in die sie umgebende Landschaft. Ganz unmerklich schlich sich eine Empfindung ein, der Gongina folgen musste, weil sie so angenehm und leicht war. Sie schaute noch immer in die Landschaft, bis ihr Blick einen in der Ferne stehenden Baum fixierte.

„Warum schaust Du mich so fragend an?“, vernahm sie die Frage des Baumes, den ihr Blick festhielt. „Bin ich so schön, dass Du mich anstarren musst?“ Gongina wollte erst antworten, nahm schon das Zucken in Zunge und Lippen wahr, bis sie sich ganz und gar der Empfindung überlies, die es ihr wiederum direkt ermöglichte, mit dem Baum in eine Verbindung und damit eine Kommunikation zu treten! „Du hast auch ein Ich?“, fragte sie. Der Baum antwortete nicht sogleich. Er zog es vor zu schweigen. Dann aber brach er in ein lautes Lachen aus: „Ich habe auch ein Ich? Was ist denn das für eine Frage? Ich bin ein Baum, und ich bin genau der Baum den Du anstarrst, weil ich wohl doch so schön bin! Alles, was ist, ist Ich! Es gibt nichts, was nicht Ich wäre, weil es nur dieses Ich gibt!“ „Hast Du auch einen Namen? Ich heiße Gongina!“ „Du kannst mich nennen wie Du willst! Namen sind Schall und Rauch, weil sie vergehen werden.“ „Du stehst so stolz da, so gerade. Andere Bäume sind krumm und schief, sind sie nicht so wie Du?“ „Also bin ich doch schön! Ich wusste es immer schon das ich schön bin! Krumm und schief haben damit nichts zu tun. Krumm und schief sind Auslegungen, Erfahrungen, die gemacht werden, um der Schönheit weiterzuhelfen, sichtbar zu werden! Ich bin schön, und ich wusste es schon immer! Ich freue mich, dass Du da bist, um mich wissen zu lassen, dass ich schön bin! Ich weiß, dass ich der zweite Baum in Deinem Leben bin, auch, wenn ich der wirklich erste bin, der für Dich schön ist. Auch bin ich der erste, der zu Dir spricht. Wohl bin ich nur ein Baum, aber ich bin! Ich wollte schon immer ein Baum sein, genau der Baum, der ich bin! Und ich bin schön!“

„Was ist denn dieses Ich, dass immer sein will, um zu sein, was es will?“ Auf diese Frage Gonginas schwieg der Baum! Gongina spürte, wie er sich knarrend zurückzog, um weiterhin der Baum zu sein, der er war. Er wirkte auf einmal sehr müde; stand nur noch da und stand! Dann brach der Baum die eingetretene Stille: „Kleiner Fratz! Ich bin nur ein Baum, ein schöner Baum, und Du bist ein Dadafu-Mädchen, dass auf der Suche nach seinem Ich ist. Du musst lernen, Dich dem Ich gegenüber zu öffnen, um das Ich zu sein, das in allem ist, weil es nur ein ICH gibt! Ich bin frei, weil ich immer schon ein Baum sein wollte, und ich lebe das Leben eines Baumes. Hast Du nur einen blassen Schimmer davon, etwas sein zu wollen, um dann später festzustellen, dass Du es tatsächlich geworden bist? Du musst wirklich noch viel lernen!“

„Ich habe ein Ich, und ich bin dieses Ich!“ entgegnete Gongina. „Ich fange an zu verstehen, und doch verstehe ich es nicht.“ Der Baum strahlte mit einem Mal eine Wärme und Herzlichkeit aus, dass es Gongina ganz warm ums Herz wurde. In seiner einfachen Art, nur ein Baum zu sein, zeigte er sich und seine Schönheit mit einer solchen Gegenwart, dass Gongina verstand, ohne wirklich zu verstehen! „Bevor es diese Welt mit all seinen Bäumen gab“ fing der Baum zu sprechen an, „gab es den Weltenbaum! Dieser Baum ist so riesig und grenzenlos. An ihm wachsen alle Früchte dieser Welt. Da wachsen Sterne und Sonnen zu Früchten heran, die ihrerseits Samen ausbilden, um die Schönheit in jeden Winkel des Raumes zu bringen. Als ich damals als Same in den Schoß einer Blüte fiel, umgaben mich Millionen anderer Samen. Und während sich der Schoß schloss, starb ich! Auch dieser Schoß schloss sich und starb! Gemeinsam starben wir, um als Frucht wieder aufzustehen. Mein Mutterbaum hatte damals viele Früchte, und alle fielen wir fast zeitgleich zu Boden, um dort unsere Wurzeln tief in den Boden zu graben. Alle meine Geschwister, die geblieben sind, haben es nicht geschafft sich zu großen Bäumen zu entwickeln. Ich wurde von einem Vogel verspeist, und fiel dann aus sehr luftiger Höhe hier an dieser Stelle zu Boden, um dann der Baum zu werden, der ich immer schon sein wollte!“

„Das ist eine schöne Geschichte“, unterbrach Gongina die Rede des Baumes. „Wenn es aber in Wirklichkeit nur ein Ich gibt, warum braucht dann jeder ein Ich?“ „Ich bin ein Baum, und dazu noch ein schöner! Wenn Du mich anschaust, werde ich zu diesem schönen Baum, und gehst Du achtlos an mir vorbei, wobei Du dann achtlos an Dir selbst vorbeigehst, dann bin ich mit dem Ich des Weltenbaumes Eins! Vor einigen Jahren saß unter meiner Krone eine Gruppe von Menschen, wobei sich einer an meinen Stamm lehnte. Er erzählte den anderen eine Geschichte, und ich habe gelauscht! Er hatte eine so feine Stimme; eine Stimme, die von etwas berichtete, was sie wohl selbst erlebt hat.

„Einst spielte ein Kind mit einem wunderschönen Kristall, in welchem sich alle Farben des Lichtes brachen. Dieser Kristall war absolut rein und in sich vollkommen. Ständig spielte das Kind mit dem Kristall und freute sich am Spiel der Farben. Das Kind war allein mit sich und dem Kristall. Eines Tages sprach das Kind zu all den Farben: „Kommt doch heraus, und spielt mit mir. Ich sehe doch, dass ihr da seid!“ Aber die Farben blieben im Kristall. „Wenn ihr herauskommt, könnten wir gemeinsam spielen. Kommt doch!“ Doch die Farben des Lichtes blieben im Kristall, und das Kind wurde zunehmend trauriger. „Könnt ihr nicht kommen, weil der Kristall euch gefangen hält? Oder habt ihr Angst vor mir? Ich tue euch nichts!“ Das Kind nahm dann den Kristall den es liebte, küsste ihn, und schleuderte ihn mit einer solchen Wucht auf den Boden, dass er in Millionen und Milliarden kleinster Splitter zerbarst. Endlich hatte es die Farben befreit! Es stand auf einem Teppich kleinster Kristalle, die alle ihre eigene Farbe preisgaben. Dann legte sich das Kind in diesen Staub aus Farben und freute sich, endlich nicht mehr allein zu sein. Dieser Staub mit all seinen Farben ist unsere Welt, und das Licht ferner Welten wird im kleinsten Kristall gebrochen, um es an andere Welten weiterzugeben. Glaubt nicht, die Welt, die ihr seht und erfahrt, verstehen zu können, weil sie nur einer von vielen Milliarden Kristallen ist. Findet das Kind der Liebe, dass niemals geboren wurde, und findet den Kristall, der niemals zerbrach!“

"Nach diesen Worten schwieg diese wunderschöne Stimme, wobei ich gestehen muss, sehr berührt gewesen zu sein. Die anderen fingen zu tuscheln an, fragten sich und gaben sich gleichzeitig Antworten." „Das ist aber eine sehr schöne Geschichte“ hakte Gongina ein, „wobei es sich nicht gehört, fremden Gesprächen zu lauschen! Magst Du mir trotzdem sagen, was die anderen tuschelten?“ „Es gehört sich eigentlich nicht, belauschtes weiterzugeben“, erwiderte der Baum, „doch da ich damit angefangen habe, werde ich es auch zu Ende bringen müssen! Einige fragten sich, wie sie ein Kind finden sollen, ein Kind der Liebe, das nie geboren wurde. Andere fragten sich, wie sie einen Kristall zusammensetzen sollten, der niemals zerbrach! Es war einer unter ihnen, dem die Geschichte sehr naheging. Er tuschelte nicht! Er hatte Tränen in den Augen. Er schien in den gesprochenen Worten Bilder zu sehen, die ihn mit dem Ursprung der wunderschönen Stimme verbanden.

„Weißt Du eigentlich“, flüsterte Gongina, „dass Du mir sehr geholfen hast? Jetzt bin ich dem Rätsel um das Ich viel nähergekommen. Danke für die wunderschöne Geschichte, und, Ja, Du bist schön!“